Letzten Winter hat es so stark geregnet, dass eine dicke Eisschicht auf dem Schnee entstanden ist. Die Tiere kamen mit ihrer fellbedeckten Schnauze nicht mehr an ihr Futter, die Rentierflechte heran. Manchem Rentierzüchter starben so zwei Drittel aller Tiere. Das erzählt mir Paulus, ein alter Rentierzüchter aus Jokkmokk. Die Kleinstadt liegt knapp oberhalb des nördlichen Polarkreises in Nordschweden. Ende Mai, zur Zeit der Rentierkälbchen flritet der alte Same bei einer kurzen Begegnung über den Zaun hinweg mit mir. Er kann sich kaum noch bewegen, so alt ist er. Aber immer noch versucht er mit einem Lasso sein Rentierkälbchen zu fangen. Seine Telefonnummer für ein Interview kann ich leider nicht bekommen: „dann wird meine Frau eifersüchtig, ich habe zu viele Frauen“ zwinkert er schelmisch. Und schon versucht er weiter, nun zusammen mit seiner Frau das störrische Kälbchen, das noch Muttermilch trinkt, zu bändigen.
Im hohen Norden Skandinaviens, oberhalb des nördlichen Polarkreises ist das letzte indigene Volk Europas ansässig. Traditionell lebten die Samen seit Jahrtausenden als Jäger und Sammler von der Rentierjagd in enger Verbindung mit der Natur. Im 16. und 17. Jahrhundert kamen die ersten fremden Siedler aus dem Süden und veränderten die traditionelle Lebensweise der Indigenen. Durch die Erhebung von Steuern mussten das Volk der Samen mehr Felle abliefern und deshalb ihre Rentiere halb domestizieren. Heutzutage gibt es keine wilden Rentiere mehr. Doch noch ist der Norden Skandinaviens die letzte echte Wildnis Europas. Die Samen leben in einem fragilem Ökosystem mit ihren Rentieren und deren Nahrungsgrundlage, den Flechten.
Die Sami haben es nicht leicht in Sapmi, ihrem Land. Denn Sapmi, wie sie ihr Land nennen, gehört Ihnen nicht. Die Samen wurden früher auch Lappen genannt und bewohnen heute die nördlichen Teilen von Norwegen, Schweden, Finnland und Russland, machen jedoch nur vier Prozent der dortigen Bevölkerung aus. In Schweden gehen nur noch zehn Prozent aller Samen ihrer traditionellen Lebensweise als Rentierzüchter nach. „Man muss daran interessiert sein“ sagen sie. Denn es ist ein hartes Geschäft. Ungefähr 300.000 Rentiere gehören den Rentierzüchtern.
Im Winter ziehen die Sami mit Ihren Rentierherden entlang der Flussläufe nach Süden und im Sommer zurück in die Berge nach Norden. Hubschrauber und Motorschlitten setzen sie längst ein um die Herden zu begleiten. Das Ren hat sein eigenes GPS im Kopf, und die Sami folgen ihren Herden auf deren Futtersuche nach der Rentierflechte und anderen Flechtenarten. Doch der Lebensraum von Samen und Rentieren ist bedroht. Durch die Klimakrise und die Erderwärmung findet das Ren immer weniger Flechten.
Das Ren und seine Flechten leben in einem ökologischen Gleichgewicht. Gibt es weniger Flechten, so gibt es weniger Rentiere, wodurch die Flechten nachwachsen können. Die Klimakrise verändert dieses Gleichgewicht. Durch die Erderwärmung ändert sich die Vegetation, die Flechten weichen den Birkenwäldchen, denn mit dem Temperaturanstieg verschiebt sich die Baumgrenze in höhere Lagen. Hitzestress und Parasiten sowie Hunger im Winter lassen viele Rentiere verenden. Umweltverschmutzung, Landraub und Trockenlegung von Seen und Gewässern durch die Eisenerzmine in Kiruna, die größte Europas, haben die samischen Rentierzüchter unter zusätzlichen wirtschaftlichen Druck gesetzt. Viele haben ihre traditionelle Lebensweise längst aufgegeben und sind Minenarbeiter geworden.
Die Begegnung mit dem alten Samen Paulus ist eher untypisch, denn die Samen leben zurückgezogen. Ein paar haben es geschafft Profit aus dem Tourismus zu holen, und bieten Touren, Übernachtungen in Berghütten oder ihre Kultur im Outdoor Museum an. Den meisten steckt noch das Trauma des vergangenen Jahrhunderts in den Knochen. Wie alle indigenen Völker wurden sie als minderwertig betrachtet. Sie wurden zwangschristianisiert. Im Irrglauben des Sozialdarwinismus wurden Ihnen die Schädel vermessen. Ihre Kinder musste per Gesetz Schulen besuchen in denen sie nicht soviel lernen konnten wie andere schwedische Schulkinder. Kein Wunder, wenn man dann dazu neigt, die eigene Identität zu leugnen.
Erst die jüngste Generation zeigt sich auch auf der Straße hin und wieder im traditionellen Sami Gewand – Ein Kleid aus blauem und rotem Stoff, kunstvoll genäht und verziert, von Sami KünstlerInnen der Gegenwart weiterentwickelt.
Was geht uns verloren, wenn das letzte indigene Volk Europas „stirbt“? Kann ihr Wissen um ein Leben im Einklang mit der Natur und ihr Respekt vor der Erde ohne die Tradition der Rentierzucht überleben? Oder sind die Samen dann nur noch „Schweden“, „Norweger“, „Finnen“ oder „Russen“?