In Nordschweden gibt es unzählige Flechtenarten. Schön schauen sie aus: ich staune nicht schlecht, als der Boden unter meinen Wanderschuhen orange und grün und silbern schillert. Im Wald hebe ich den Kopf: Wind und Sonne spielen mit schillernden Bärten in den Bäumen. Der Bartflechte (botanisch: Usnea barbata) begegne ich ständig auf meiner Wanderung im Muddus Nationalpark.

Muddus ist einer der vier Nationalparks des Unesco Laponia Welterbes. In Nordschweden bildet die Rentierflechte (botanisch: Cladonia rangiferina) die Nahrungsgrundlage der Rentiere. Das Ren wiederum ist die traditionelle Nahrungsgrundlage der Samen, der letzten Indigenen Europas.

Bei meiner mehrtägigen Wanderung durch den Muddus Nationalpark werde ich von Bären und Elchen beobachtet, dessen bin ich mir sicher, auch wenn ich die Tiere nicht entdecken kann. Dafür sehe ich umso mehr Bartflechten, denn diese hängen hier zahlreich von Kiefern und Fichten herab. Dicht daneben wachsen Birken, den Waldboden zieren neben den Flechten, Moosen und Bärlappen blühende Blaubeer- Preiselbeer- und Wacholderbeersträucher. Unberührte Wälder, Wasserfälle, tiefe Schluchten, lauschige Flussufer und weite Moorlandschaften mit Seen wechseln sich ab. Wildvögel paaren sich und zwitschern tagsüber und auch nachts, denn Ende Mai geht die Sonne schon nicht mehr unter. So steige ich spätnachts bei strahlendem Sonnenschein auf den Muttoluoppal, den Vogelbeobachtungsturm.

Die Flechte ist eine gelungene Hunger-Symbiose

Die Flechte (botanisch: Lichen) ist keine Pflanze, sondern eine Lebensgemeinschaft aus Algen und Pilzen und teilweise Cyanobakterien. Ihre Symbiose ist ziemlich robust: Pilze können Nährstoffe direkt aus der Luft aufnehmen. Diese Nährstoffe nehmen die Algen dankbar an und stellen Zucker her, welchen wiederum die Pilze benötigen um sich zu ernähren und fortzupflanzen.

20.000 Flechtenarten wachsen weltweit unter teils extremen Bedingungen. In der Arktis und Antarktis, im Hochgebirge, in Mauernischen, überall kann man Flechten finden. Einige Arten sollen sogar auf dem Mars überlebensfähig sein. Denn im Zusammenspiel können Flechten an extremen Standorten vorkommen, in denen der Pilz oder die Alge alleine nicht existieren könnten. Die Flechte ist also ein Bodenpionier und kann sich neue Lebensräume erschließen. Doch eines braucht sie dringend: reine Luft. In den meisten Städten können Flechten wegen der Luftverschmutzung nicht gedeihen.

Nahrungsverknappung durch Verlust von Ackerboden

Etwa 37% der weltweiten Landfläche sind landwirtschaftlich genutzt. Davon werden Dreiviertel für die Viehzucht und nur Einviertel für den Anbau von Nahrungspflanzen verwendet. Durch Überdüngung, Bodenerosion, Klimawandel und Umweltverschmutzung gehen mehr und mehr dieser Anbauflächen verloren. In den nächsten Jahrzehnten wird ein Verlust von mehr als der Hälfte der landwirtschaftlichen Flächen der Welt erwartet. Kriege wie der gegen die Ukraine verschlimmern die Situation aktuell vor allem in Afrika. Weltweite Hungersnöte scheinen schon in ein paar Jahrzehnten bei Überschreitung der Erderwärmung um 2 Grad Celsius vorprogrammiert zu sein. Denn die durch den Klimawandel drastisch abnehmenden Anbauflächen reichen rein rechnerisch schon jetzt nicht mehr aus um die Menschheit zu ernähren. Unsere aktuelle, krankmachende Ernährungsweise wird bei dieser Rechnung vorausgesetzt.

Flechten sind nahrhaft

Hungersnöte sind nichts Neues, und die Flechte als Nahrungsquelle ist auch schon lange bekannt. Das Buch von J. Bayrhammer über die „praktische Anweisung zum Gebrauch der isländischen Flechten als Ergänzungsmittel des Brotkorns“ erschien bereits 1818, während einer Hungersnot in Nordeuropa. Flechten könnten also nicht nur Nahrung für Rentiere und viele andere Tiere wie Mikroorganismen und Kleinstlebewesen sein.

Untersuchungen zeigen, dass die gesamte Menschheit sich von Flechten ernähren könnte. Die weltweit vorkommenden Flechten stellen gemeinsam mit den mehrzelligen Pilzen 2% der Biomasse. Das klingt erstmal wenig, zumal nicht alle Flechtenarten genießbar sind. Umgerechnet auf den täglichen Nahrungsbedarf von aktuell 8 Milliarden Menschen wären sie jedoch eine alternative Nahrungsquelle die die Menschheit aus Hungersnöten retten könnte, ja sogar allein ernähren könnte.

Ursprünglich aus Flechten gebrannt wurde das schwedische Nationalgetränk Aquavit. Indien, Nepal, Japan, überall auf der Welt findet man schmackhafte traditionelle Rezepte mit Flechten. Flechten-Curry, Flechten als Salat oder gebraten, Flechtenpesto: richtig zubereitet verlieren sie ihren bitteren Eigengeschmack. Flechten sind reich an Mikronährstoffen. Sie können eine Quelle für Vitamin D3 sein. Flechten bieten also nicht nur die nötigen Kalorien zum (Über)Leben, sondern können wichtiger Bestandteil einer gesunden und ausgewogenen Ernährung sein.

Auf meiner Wanderung durch den Muddus Nationalpark in Nordschweden stecke ich immer wieder eine Rentierflechte in den Mund und kaue wie ein Kaugummi darauf herum. Lecker! Ich mag den leichten Pilzgeschmack und die im Hintergrund vorkommenden Aromen nach Waldboden und frischem Grün.

Flechten als Heilpflanzen

Sowohl in der Volksheilkunde und als wissenschaftlich untersuchte Arzneipflanzen kommen Flechten zum Einsatz.

Das „Isländisch Moos“ ist gar kein Moos sondern eine Flechte (Lichen Islandicus). In Form von Lutschpastillen ist es eine bekannte Arznei bei Heiserkeit und Halsreizungen. Die enthaltenen Schleimstoffe können Hals- Rachen- und Stimmlippenentzündungen lindern.

Die Bartflechte (Usnea barbata) enthält Usninsäure, eine Art natürliches Antibiotikum und wird deshalb traditionell bei Entzündungen aller Art verordnet. Usninsäure kommt auch im Isländisch Moos vor. Volksmedizin und TCM kennen viele weitere Anwendungsgebiete der Flechten – wissenschaftlich bewiesen sind sie nicht. Die Echte Lungenflechte (Lobaria pulmonaria) wurde im Mittelalter bei Lungenkrankheiten verschrieben, heute findet sie in der Homöopathie als Sticta pulmonaria Anwendung.

Beschrieben werden aber auch Nebenwirkungen, so z.B. eine Form der Kontaktallergie durch die Bartflechte. Bevor man Krankheiten selbst behandelt sollte man sich immer an einen Arzt oder Heilpraktiker wenden.

Wieder einmal steckt die Medizin im Blatt (der Flechte): an sich schon eine ökologische Lebensgemeinschaft und ein Bodenpionier ist sie Futtermittel, Nahrung und Heilpflanze zugleich. Schon mehrfach bewahrte sie die Menschheit vor dem Verhungern. Die Welt scheint voller Lösungen, aber die gibt es nicht im Fast Food Restaurant oder im Supermarkt. Entscheidend ist, ob wir willens sind und lernen unser (Ess-) Verhalten an die vorhandenen Lösungen anzupassen?